Guten Tag!
Ich war jetzt doch selbst neugierig genug und habe das @9 verlinkte Buch bestellt. Das Bild mit der fraglichen Gleisführung steht dort unter der Nr. 35 und wird wie folgt erläutert: „This arrangement was laid to meet the requirements of tradesmen whose frontages needed delivery vehicles to be parked outside their premises troughout the day. Passing trams could use either line to circumvent these conveyances.” (Etwa: Dieses Gleisbild wurde gelegt, um die Anforderungen von Gewerbetreibenden zu erfüllen, die im Laufe des Tages Lieferfahrzeuge vor ihren Geschäften – und damit außerhalb ihrer Grundstücke - parken lassen mussten. Vorbeifahrende Straßenbahnwagen konnten die Gleise wahlweise nutzen, um diese Fahrzeuge zu umgehen.)
Hier gilt der im Vereinigten Königreich sehr ausgeprägte Grundsatz, dass niemandem ein althergebrachtes Recht beschnitten werden darf. Vorn im genannten Buch zeigt ein Formbrief der (privaten) Straßenbahn-Gesellschaft, dass jeder Eigentümer Einwände gegen das geplante Projekt geltend machen konnte, vor dessen Grundstück die äußere Schiene mit weniger als 2,9 Meter („nine feet six inches“) Abstand zur Bordsteinkante zu liegen kommen sollte.
Mit dem skurrilen Gleisplan in der Aktentasche konnten Tramway-Anwälte den Lohnkutschern links am Straßenrand (siehe das verlinkte Bild von 1902 oben @9) erzählen, die Tram nähme bei Bedarf die verlängerte Einfahrt in die Gleisverschlingung. Und dem Besitzer des Hauses rechts (siehe wieder das verlinkte Bild von 1902) konnte man sagen, die Tram schwenke natürlich früher auf die andere Straßenseite, falls ein Fahrzeug vor dem Public Telephone respektive dem dortigen Maschinenschreib- und Buchhaltungsservice parken sollte.
Dass nur das eine oder das andere geht, und dass bei „Tram von hinten“ die Kutschen links jedenfalls das Gleis räumen musste, das zeigte den potentiellen Einwändern dann erst die Praxis nach dem Bau.
Den Autor des Buches über die Scarborough Tramway scheint die Gleisführung absolut nicht zu überzeugen, denn er kommentiert Bild 36, das die diskutierte Situation fertig gebaut und unter Betrieb zeigt, folgendermaßen: „It is not known how much use was made of this complex layout.“ (Etwa: Es ist unbekannt, wieviel Gebrauch von diesem umfangreichen Gleisplan tatsächlich gemacht wurde.) Der Sinn dieses Unikums ist als wohl weniger verkehrlicher, sondern mehr psychologischer Art, und deshalb ist es kein Wunder, dass wir uns alle darüber wundern.
Aus der diskutierten Situation heraus nach rechts folgt für die Tram übrigens recht bald ein längerer eingleisiger Abschnitt (keine Gleisverschlingung!) in der Mitte einer eigentlich recht breiten Straße (Newborough). Der Buchautor bezeichnet diese Eingleisigkeit, die sogar ein Lichsignalisierung für die Trams erforderte, als „inexplicable“ (nicht erklärbar, zu Bild 47). Wir befinden uns dort jedoch in einer Einkaufszone, und die Händler auf beiden Straßenseiten dürften sich im Vorlauf zum Gleisbau auch hier für einen unbeeinträchtigten Lieferverkehr eingesetzt haben.
Zu den Weichen: Die kurzen Zungen wurden mit einem Stelleisen in Position gebracht, vermuttlich jeweils nur auf einer Seite. Falls das zutrifft, hätten auf „unserem“ Bild lediglich zwei Herzstücke eine bewegliche Zunge: Auf dem linken Gleis für den Abzweig links oder rechts, und auf dem rechten Gleis für die „frühe“ oder „spätere“ Einfahrt in die Verschlingung.
Die Scarborough Tramways hatten eine Spurweite von 106,7 cm (Kapspur), der Achsstand der ausschließlich gefahrenen Doppelstock-Zweiachser lag bei ziemlich knappen 168 oder 183 cm, und das gesamte, nur gut 7 km lange Schienennetz wurde bereits 1931 stillgelegt und durch Busverkehr ersetzt.
Allen, die bis hierher gelesen haben, danke ich sehr für die Geduld!
Es grüßt
Karl